Einführung ins Werk von Juni Huber, Journalistin. Villa Wieser, Herxheim
Chris‘ Bilder, deren Entstehung und Entwicklung ich jetzt seit einigen Jahren verfolge, setzen bei mir als Person, die sich in erster Linie sprachlich ausdrückt, immer eine kleine Ansammlung von Begriffen frei, von Worten. Angesichts der Werke, die Chris hier ausstellt, möchte ich über Filter und Erinnerung sprechen, über Zufall, Zeichen, und über die Vibration, das Dazwischen.
Filter und Erinnerungen
Chris und ich und auch einige weitere Anwesende gehören einer Generation an, die die alte, analoge Welt ebenso erlebt hat wie die neue, digitale. Wir sind vertraut mit einer Realität, die uns tausendfach gebrochen und auf tausenden von Kanälen erreicht, in Gestalt einer Informationsflut, die beispiellos ist in der Geschichte des menschlichen Gehirns.
Um eine solche Informationsmenge verarbeiten zu können, benötigen wir Filter. Der Filter hält zurück, was für den Moment nicht von Interesse ist, sodass wir anderes besser wahrnehmen können. Kunst ist ein besonderer Filter, denn sie lässt Dinge hervortreten, die nur wenige oder vielleicht auch niemand außer der schaffenden Person sonst wahrgenommen hätte. Und doch sind sie da. Die Inhalte von Chris Roths Bildern, die wir hier sehen, sind Erinnerung, und zwar deren Essenz. Sie legt offen, was von der Erinnerung noch da ist, also nicht was da war, sondern was heute davon noch ist. Sie laden uns dabei im Übrigen auch ein, darüber nachzudenken, was von der Erinnerung irgendwann einmal noch sein wird. Und schon im Nachdenken darüber verändern wir die Erinnerung. Sie wird in dem Moment, in dem wir sie in uns hervorholen, auch wieder neu abgelegt, das ist die Natur unseres Gehirns. Und damit ist sie nicht mehr dieselbe.
Chris schafft sich die Vorlagen ihrer Landschaftsbilder, indem sie fotografiert. Schon die Porträts, die in einer früheren Schaffensphase von Chris den Landschaften voran gingen, basierten auf Fotografien, und zwar auf Selfies. Deren besonderer Filter besteht hauptsächlich in der Auswahl, die die Abgebildeten treffen. Die Vorlage für eins der Werke, die dabei entstanden, soll unter 100 Selfies ein und derselben Person ausgewählt worden sein, wie ich aus sehr sicherer Quelle gehört habe.
Der Zufall
Landschaft macht keine Selfies. Aber Chris macht viele Bilder von der Landschaft. Ihre Motive sind auch romantisch. Allerdings eher wie in Turners zum Impressionismus und Symbolimsmus lehnenden „Great Western Railway“ als bei C. D. Friedrich. Sie fotografiert Straßen und Wälder und vermeidet dabei jegliches Idyll. Anschließend wendet sie einen digitalen Farbfilter auf die Bilder an. Sie will, dass diese Bilder künstlich wirken, dass sie komplett anders funktionieren als eine naturgetreue Abbildung. Noch bevor ein Pinselstrich gesetzt wurde, werden die Vorlagen so fragmentiert und wieder zusammengesetzt. Aus der technisch erschaffenen Dokumentation dessen, was vor der Linse war, werden farbige Schatten – Erinnerungen. Der Filter steht außerdem nicht komplett unter ihrer bewussten Kontrolle, ein Moment des Zufalls ist immer dabei. Das selbe geschieht dann auch beim Malen. Auf der Leinwand mischen sich die Elemente, bluten ineinander ein. Der große Bob Ross nannte diesen Einfluss des Zufalls „happy little accidents“, freudige kleine Unfälle; Chris nennt es „den Zufall umarmen“.
Sie pfeift auf den Nimbus der Künstlerin als absoluter Herrin des Geschehens. Sie legt soweit es geht den künstlerischen Prozess offen, bis hin zu Videos vom Malvorgang, die sie auf Youtube veröffentlicht. Der Blick auf das Werk soll klar sein, so klar wie möglich. Die Bilder sollen durchschaubar sein, ihre Schichten sollen erkennbar sein. Um ihre Kunst soll kein Geheimnis sein. Damit klar wird: Diese Kunst ist eben keine Magie. Sie ist das Ergebnis von Arbeit. Karl Valentin hätte das gefallen.
Die Zeichen
Besonders in ihren abstrakten Gemälden, aber nicht nur in diesen, hat Chris die Überforderung mit dem Informations- und Zeichenstrom, deren Überwindung oder auch die Kapitulation davor mehrfach thematisiert. Auf vielen Bildern sind Schriftzüge erkennbar, in der Art von Graffiti, parolenhaft, zuweilen mit politischem Inhalt. Die Künstlerin verzichtet dabei auf jede ironische Einkleidung, sie drückt aus, was sie denkt. Zugleich lassen sich diese Hinzufügungen wie Kommentare und Notizen lesen, Selbst-Korrektur und Selbst-Kritik. Chris stellt das Werk in Frage, diskutiert es mit sich selbst und macht die Infragestellung gleich wieder zu einem Teil des Werks. Schlieren und Kratzer, mit einem Messer zugefügt, lassen ein räumliches und zeitliches Distanzgefühl entstehen, schaffen Abstand wie ein alter, zerkratzter Spiegel. Sie illustrieren zugleich die Entstehung des Bildes als Prozess, dessen Ende durchaus nicht sicher ist. Zitat Chris: „Ich bin mir relativ sicher, dass diese Bilder hier fertig sind.“ Bei aller Zeichenhaftigkeit: *Ein* Zeichen enthalten diese Bilder nicht – den Schlusspunkt.
Das gilt auch für die inhaltliche Ebene. Die Symbolik ist offen gestaltet. Chris sieht sich selbst zwischen Neo-Impressionismuns und abstraktem Expressionismus; ihr Umgang mit Farbe lässt mich zu letzterem tendieren, aber auch eine religiös-spirituelle Interpretation ist möglich, sodass zumindest Chris‘ Landschaftsbilder – dazu zähle ich alle Bilder mit Straßenmotiv, also auch jenes Bild, das in einem Tunnel entstand – als symbolistische Werke lesbar werden: Aufragende Formen, eine in beide Richtungen fliehende Straße, der in entfesselten Farben strahlende Himmel; Figuren am Rand, die an mächtige, fremdartige Wesen einerseits, andererseits an religiöse Artefakte oder auch an Überreste von kathedralenartigen Bauten denken lassen. Chris eignet sich diese Objekte und Motive an, indem sie sie in grelle Neonfarben kleidet, sie hinter einen Farbfilter bannt. Sie nimmt diesen Erinnerungen deren Eigenmächtigkeit, bannt vielleicht auch deren Schrecken. Vibration – dazwischen Die Bilder von Chris Roth sind Bewegung. Viele haben zwei Titel. Denn die Künstlerin ist in Bewegung zwischen verschiedenen Perspektiven auf ihre Werke. So wird begreiflich, wie stark unsere Wahrnehmung vom Fluss der Zeit und unserer konstanten Bewegung in gedanklichen Räumen beeinflusst wird. Wie wir erwarten, aufnehmen, verarbeiten und uns erinnern. Der Prozess der Erschaffung unserer Welt durch uns selbst ist nie zu Ende, und ein Bild von Chris ist nie wirklich fertig, selbst wenn es ihr Atelier verlassen hat. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit an ein Porträt von Rosa Luxemburg, das seine wichtigste Überarbeitung – seine bisher wichtigste Überarbeitung – erfuhr, während die Ausstellung gerade eröffnet wurde. Schon öfter ist es uns, die wir Chris‘ künstlerische Tätigkeit übers Internet verfolgen, passiert, dass sie ein Bild veröffentlicht hat, das ziemlich fertig aussah, und wenige Stunden später eine neue Version erschien, die noch einmal etwas ganz neues zeigte, abstrakte Elemente beispielsweise in einem Fall vor wenigen Tagen, die dem dahinter liegenden Motiv eine neue Geometrie verliehen, eine eigentümliche Räumlichkeit. Der Zustand von Chris‘ Bildern ist Vibration: Zwischen dem, was sie abbilden, woran sie erinnern, was sie in der betrachtenden Person hervorrufen – und dem, was sie sein werden, ob sich nun ihre äußere Erscheinung noch einmal ändern wird oder wir irgendwann einen neuen Blick darauf werfen. Ganz konkret: Kommen Sie doch bei Tageslicht noch einmal wieder! Sie werden die Farben dieser Bilder ganz anders sehen. Ich lade Sie und euch ein, diese Bilder vor dem inneren Auge zerfallen zu lassen, sie zu zerlegen, zu zerdenken und zerphantasieren. Nahe ranzugehen, einen analytischen Blick darauf zu richten, sie für sich selbst zu filtern. Der Vibration nachzuspüren, die von ihnen ausgeht, das Dazwischen zu ergründen.
-Juni Huber